Krank im Urlaub – Wann ist der Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert und entfällt der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall?

BAG, Urt. v. 15.01.2025, 5 AZR 284/24

Grundsatz:

Das BAG hält auch in dieser Entscheidung an dem Grundsatz fest, dass einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der Europäischen Union ausgestellt wurde, hier in Tunesien, grundsätzlich der gleiche Beweiswert zukommt, wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung. Das ist gilt aber nur dann, wenn die Bescheinigung erkennen lässt, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entsprechende Beurteilung vorgenommen hat  (Urteil RN 14).

Beweiswert der im Nicht-EU-Ausland ausgestellten AU-Bescheinigung erschüttert?

Der Beweiswert Bescheinigung kann erschüttert sein, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung des zu würdigenden Einzelfalls Tatsachen vorliegen, die zwar für sich allein betrachtet den Beweiswert der AU-Auslandsbescheinigung nicht erschüttern, in der zusammenfassenden Gesamtschau aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Bescheinigung begründen. Bei der Bewertung gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Kurzgefasst:

Die Revision der Beklagten war erfolgreich. Das BAG sieht den Beweiswert der Nicht-EU-AU-Bescheinigung als erschüttert an. Dabei war entscheidend, dass der tunesische Arzt am 7. September 2022 „schwere Ischialbeschwerden im engen Lendenwirbelkanal“ diagnostizierte und dem Kläger für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, zugleich die Notwendigkeit häuslicher Ruhe und das Verbot, sich bis zum 30.September 2022 zu bewegen und zu reisen, attestierte, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen.

Der Kläger aber, Entgegen den ärztlichen Anordnungen, bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Bewegungs- und Reiseverbots ein Fährticket für den 29. September 2022 buchte und an diesem Tag die lange Rückreise nach Deutschland, per Auto und Fähre, antrat. Zudem hatte er bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt.

Sachverhalt:

Der Kläger, ein Lagermitarbeiter, seit Mai 2002 bei der Beklagten zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von zuletzt 3.612,94 Euro beschäftigt. In den Jahren 2017, 2019 und 2020 legte er

der Beklagten im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub vier Mal Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, wobei er sich im Anschluss an den Sommerurlaub 2017 wegen der Entfernung von Nierensteinen in stationärer Behandlung befand.

In der Zeit vom 22. August bis zum 9. September 2022 gewährte die Beklagte dem Kläger Urlaub, den dieser in Tunesien verbrachte. Mit einer E-Mail vom 7. September 2022 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er bis zum 30. September 2022 „krankgeschrieben und arbeitsunfähig“ sei. Beigefügt war ein in französischer Sprache verfasstes Attest vom selben Tag des Arztes Dr. H aus B in Tunesien. Nach der Übersetzung durch den Kläger bescheinigte Dr. H, dass er den Kläger untersucht habe, dieser an „schweren Ischialbeschwerden“ im engen „Lendenwirbelkanal“ leide, der Kläger 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30. September 2022 benötige und er sich während dieser Zeit nicht bewegen und reisen dürfe.

Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Kläger am 8. September 2022 ein Fährticket für den 29. September 2022 und reiste an diesem Tag mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Danach legte er der Beklagten eine Erstbescheinigung eines an seinem Wohnort in Deutschland niedergelassenen Facharztes für Orthopädie vom 4. Oktober 2022 vor, in der Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober 2022 bescheinigt wurde.

Nachdem die Beklagte dem Kläger mitgeteilt hatte, dass es sich ihrer Auffassung nach bei dem Attest vom 7. September 2022 nicht um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handele, legte der Kläger eine erläuternde Bescheinigung des Arztes aus B vom 17. Oktober 2022 vor, in welcher dieser bescheinigte, den Kläger am 7. September 2022 untersucht zu haben. Weiter heißt es: „Er hatte eine beidseitige Lumboischialgie, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 07/09/2022 bis 30/09/2022 erforderlich machte.“ Die Beklagte lehnte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte die Vergütung für den September 2022 um 1.583,02 Euro netto.

Verfahrensgang:

Mit seiner Klage hat der Kläger – soweit für die Revision von Bedeutung – von der Beklagten für diesen Zeitraum Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verlangt. Er hat behauptet, er sei arbeitsunfähig erkrankt gewesen, und gemeint, das Attest vom 7. September 2022 stelle ebenso wie die Bescheinigung vom 17. Oktober 2022 eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dar, deren Beweiswert die Beklagte nicht erschüttert habe. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen (ArbG München, Urt. v. 14. November 2023 – 13 Ca 593/23).

Das Landesarbeitsgericht München (Urt. v. 16. Mai 2024 – 9 Sa 538/23) hat auf die Berufung des Klägers der Klage auf Entgeltfortzahlung stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter, während der Kläger die Zurückweisung der Revision begehrt. Die Revision der Beklagten war erfolgreich.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts:

Das BAG folgt dem LAG München darin, dass jedenfalls die erläuternde ärztliche Bescheinigung des Dr. H vom 17. Oktober 2022 zum ärztlichen Attest vom 7. September 2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darstellt. Diese enthält die ausdrückliche Aussage, dass der Kläger eine beidseitige Lumboischialgie hatte, „die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 07/09/2022 bis 30/09/2022 erforderlich machte“. Damit unterscheidet die AU-Bescheinigung damit ausreichend zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit.

Im Weiteren begründet das BAG seine Entscheidung zugunsten der beklagten Arbeitgeberin damit, damit, dass Berufungsgericht bei der Würdigung der von der Beklagten zur Begründung ihrer Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit vorgetragenen tatsächlichen Umstände die rechtlich gebotene Gesamtwürdigung unterlassen hat. Auch wenn man davon ausgehen würde, dass die jeweiligen Umstände für sich betrachtet unverfänglich sein mögen, begründet das Zusammentreffen derart ungewöhnlicher Umstände in der Gesamtschau ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Das sind aus Sicht des BAG

  • die Dauer der attestierten Erkrankung für 24 Tage ohne Wiedervorstellung;
  • Dauer der bescheinigten AU übersteigt Regelmäßige Höchstdauer von 2 Wochen§ 5 Abs. 4 Satz 1 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie in der im September 2022 geltenden Fassung ohne Begründung;
  • Anordnung strenger häuslicher Ruhe mit Bewegungs- und Reiseverbot;
  • Buchung des Rückreisetickets bereits am Tag nach dem Arztbesuch und Rückreise bereits am 29. September 2022 zunächst mit Auto und Fähre von Tunis nach Genua, dann weiter nach Deutschland;
  • dass der Kläger weitere drei Mal in den Jahren 2017 bis 2020 unmittelbar im Anschluss an seinen Urlau Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt hatte.

Da der Kläger die Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 EFZG, trägt und das Landesarbeitsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hatte, hat das BAG die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Link zur Entscheidung:

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten ärztlichen Bescheinigung

Prozessuales / Darlegungs- u. Beweislast:

Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag zB dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden habe (BAG, Urt. v. 15.01.2025, 5 AZR 284/24 – RN 16).